Einen Fehler begehen und sich nicht bessern, das erst heißt, einen Fehler begehen...
Kung Dse
Im Gefängnis ist es fad. (No na, sonst wären ja alle dort.). Manche Leute beschädigen sich selbst, um ein wenig Abwechslung in einem kurzen Krankenhausaufenthalt zu finden. Zur kaputten Seele gesellt sich ein demolierter Körper. Der Totalschaden soll nicht nur auf den Motor beschränkt bleiben. 1964, als Siebzehnjähriger im Jugendgericht, schnitt ich mir die Pulsadern auf. Gebracht hat es nichts, außer dass ich im Rudolfs-Spital genäht wurde. Hauptsache raus aus der Zelle, den Mauern. Weg von den grauen Gesichtern und dem monotonen Tagesablauf. Den grauen Gefängnisalltag für kurze Zeit etwas bunter gestalten. Mit dem kräftigen Rot des eigenen Blutes als warnendes Signal, um im sanften Grün des OP-Saales Zuneigung und Anteilnahme zu verspüren. Für wenige Stunden das tägliche Lamentieren, Selbstbemitleidung und das größenwahnsinnige Aufschneiden der meisten Zellenkollegen nicht hören. Denn in den „Genuss" der Einzelhaft kommen nur besonders schwere Verbrecher, Millionen- Betrüger oder Prominente.
Der „normale" Häftling wird, besonders in der Untersuchungshaft, ohne Rücksicht auf seine Bildung oder Persönlichkeit mit anderen Menschen zusammengesperrt, mit denen er in Freiheit nicht einmal ein Wort wechseln würde. Besonders nicht nachts und allein...
Die eigentliche Strafe ist weniger das eingesperrt sein. Vielmehr sind es die „Kollegen", die einem am Arsch gehen. Lauter „Steher“. Obwohl die Polizei besonders bei der Aufklärung von Drogendelikten fast ausschließlich von Informanten lebt, ist keiner der Häftlinge ein „Wams". Immer ist es der „andere", der keine Gelegenheit zu einer Stellungnahme hat. Fast jeder brüstet sich damit, ein Gewalttäter zu sein. Eine präventive Maßnahme, hinter der sich oft die Angst verbirgt. In amerikanischen Gefängnissen würden nur wenige überleben... Dafür aber überleben bei uns mehr brave Bürger, weil der österreichische Ganove mehr Wert auf eine scharfe Zunge oder eine schnelle Hand legt als auf ein scharfes, schnelles Messer. Der Österreicher ist auch im „Häfen" sanfter... Da werden zumeist die eigenen Pulsadern zerfetzt, Löffeln und vieles andere mehr verschluckt. Im Spital sieht man dann wieder Menschen, besonders Frauen. Man atmet für einige Stunden den ungefilterten Duft von Desinfektionsmitteln und hofft, in den vorbeieilenden Gesichtern keinen Ekel zu erkennen. Vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit zur Flucht, bei dieser kleinen Flucht...
Dafür nimmt man Schmerzen und noch mehr in Kauf. So stehen Selbstverstümmelungen und Selbstmordversuche in jedem Gefängnis auf der Tagesordnung. Tendenz steigend. Viele sind nicht ernsthaft, doch oft genug wird aus einem „Schneeball" eine Lawine und der Hilferuf verhallt ungehört hinter klirrend kalten Wänden. Wie erwähnt, viele Suizidversuche sind nur ein lautloser Schrei, um auf sich aufmerksam zu machen. Vielleicht, um die Frau oder Freundin zurückzugewinnen, wenn sie abgesprungen ist. Oder, um Medien zu beeinflussen, wie ich es bei dem wahrscheinlich ungewollten Selbstmord des Johann „Jack“ Unterweger vermute. Ein Bekannter von mir hatte vor über zwanzig Jahren das gleiche Schicksal erlitten. Um dem Arbeitshaus zu entgehen und in eine Nervenklinik eingeliefert zu werden, schluckte er eine Überdosis Schlaftabletten. Sein Zellenkollege schlief ein, statt wie ausgemacht, Alarm zu schlagen. Oder Toni. Er goss sich in Stein siedendes Öl in die Schuhe, um dem Arbeitshaus ein Schnippchen zu schlagen. Er ging auf Krücken vom Spital nach Hause, um zwei Jahre später den schweren Gang anzutreten. Toni war über ein Jahr auf der Flucht vor den Häschern und vor einem normalen Leben. Als ich in von 1968-70 in diversen Haftanstalten meine längste Strafe verbüßte (zweiundzwanzig Monate), traf ich viele solcher Fälle. Besonders in der Sonderanstalt Mittersteig in Wien. Mit der Zeit übertraf ich sehr viele.
Nur das Schlucken von Gegenständen schmeckte mir nicht so ganz. Als ich mich 1975 nach einer Flucht wieder den Behörden stellen wollte, handelte mein Vater mit einem leitenden Psychiater des Pavillon 23 am Steinhof wegen meiner Depressionen eine psychiatrische Behandlung bis an mein Strafende aus. Ich schluckte eine Überdosis Valium, um meinen Zustand aufzuzeigen, und wurde auf der Fahrt ins Spital im Taxi bewusstlos. Mein Vater und meine Freundin Maria begleiteten mich auf diesem schweren Weg. Letztere war auch der Grund, warum ich abgehauen war. Ihr neuer Freund konnte sich schon eines schönen Brillantringes, eines Dupont-Feuerzeuges, eines schönen „Taschengeldes" und ihrer Gunst erfreuen. Nach drei Tagen in Freiheit versprach sie, wieder zu mir zurückzukehren, was sie auch einhielt. Da ich aus Angst vor möglichen Repressalien nicht direkt ins Gefängnis zurück wollte, wurde auch der Deal mit dem Psychiater ausgehandelt.
Im Wilhelminenspital wurde mir der Magen ausgepumpt. Anschließend wurde ich auf die Baumgartner Höhe überstellt. Nach einer Woche wollte mich die Justiz abholen, da sich plötzlich niemand mehr an den „Kuhhandel" erinnern wollte. Im Gefängnis wartete aber die Korrektionszelle, die „Kure“, auf mich. Das hieß allein in einer leeren Zelle, in der man am Abend eine Matratze zum Schlafen bekam. Es gab keinen Lesestoff, keine Zigaretten, keine Zusatznahrungsmittel. Nichts, außer dem einbetonierten Klosett. Die Zeit in der Absonderung war wegen Arbeitsverweigerung nachzumachen, da die Flucht an sich straflos ist, wenn man dabei nichts beschädigt oder eine neuerliche strafbare Handlung setzt.
Vielleicht eine boshafte Sachbeschädigung, wenn man Gitterstäbe durchsägt oder mit der Anstaltskleidung flüchtet und sie nicht zurücksendet. Das ist dann Diebstahl und wird als Strafsache neuerlich verhandelt. Ich war jedenfalls echt verzweifelt und wollte den Rücktransport ins Gefängnis irgendwie verhindern. Meine Enttäuschung wegen des gebrochenen Versprechens war enorm, denn plötzlich war von einer (mildernden) Selbststellung keine Rede mehr. Ich überlegte, wie ich mich ernsthaft „bedienen" könnte. Mit den vorhandenen Mitteln nicht zu schaffen, denn es gab nur Plastikgeschirr und Plastikbesteck. Da fiel mir die Klobürste ein. Da ich im Gitterbett lag, ging ein eingeweihter Patient auf die Toilette, entfernte den rostigen , schmutzigen und mit Fäkalien „gewürzten“ Draht von der Bürste, der sie mit dem Stiel verband, bog sie in der Hälfte zusammen und drehte ein ca. fünfzehn Zentimeter langes Gebilde. Ich steckte es mir in den Mund und verschluckte den Draht. Mahlzeit. Ich wurde trotzdem ins Gefängnis überstellt, bekam 24 Tage „Absonderung" und musste die Hausstrafe gleich antreten. Zu Essen bekam ich Sauerkraut mit Rizinusöl, um die „eiserne" Ration auf natürlichem Weg loszuwerden. Ich trat in den Hungerstreik. Den begonnenen Weg wollte ich fortsetzen...
Nach zehn Tagen brach ich beim Spaziergang, der ebenfalls allein zu absolvieren war, zusammen. Drei Tage später wurde ich in die geschlossene Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses überstellt und operiert. Nach der Operation trank ich einige Schluck Wasser, da ich mir einen letalen Ausgang wünschte. Den Arzt ließ meine Aktion ziemlich kalt. Wie alle Selbstbeschädiger wurde ich vom Personal nicht gerade freundlich behandelt. Doch wie soll ein Satter den Hungrigen verstehen? So wurde ich kurz nach der Operation mit einer Trage zum Röntgen befördert. Zwei Pfleger hoben mich nicht gerade sanft vom Bett auf das Tragegestell. Mein lautes Stöhnen ließ sie kalt. „Hätts´t nix geschluckt" war ihr lakonischer Kommentar. Beim Röntgen wurde ich mit der Trage aufgestellt, so dass ich vor Schmerzen brüllte.
Man ließ mich brüllen und vor Schüttelfrost zittern. In dem durch ein massives Gitter abgegrenzten Krankenzimmer, in dem man auch der Notdurft auf einer Schüssel nachkommen musste, wurden kurze Zeit später zwei weitere (arme) Schlucker eingeliefert. Echte Vollprofis. Willi, der Dicke, stritt sich mit Herbert, der mit seinem ausgemergelten Körper an einen Insassen eines Konzentrationslagers erinnerte, wer dem Staat schon mehr Kosten verursacht habe. Sie hatten beide an die 35 Operationen hinter sich und hunderte Narben von Rasierklingen an den Händen. Willi war ganz stolz darauf, schon im Wasserbett gelegen zu sein, weil die Operationswunden nicht mehr so ohne weiteres heilten. Einmal war er im Nachthemd aus dem Wasserbett entflohen und ließ sich ein paar Stunden später die Lokalrunden, die er in einem Wirtshaus geschmissen hatte, vom Leiter der Sonderanstalt Mittersteig, dem legendären Psychiater Dr. Willibald Sluga, persönlich bezahlen und brav ins Gefängnis zurückführen. Willi hatte schon über zwanzig Jahre Gefängnis hinter sich und freute sich wie ein kleines Kind über den Streich. Seine Straftaten waren im Prinzip auch nur Streiche gewesen. Kleinste Diebstähle und Betrügereien zierten sein Vorstrafenregister. Kleine Erfolgserlebnisse für einen erfolglosen Menschen. Dito bei seinem „Leidensgenossen". Jeder hatte einen Hang zur totalen Selbstvernichtung.
Ich kannte alle Beteiligten von meiner Zeit auf dem Mittersteig. Dr. Sluga hatte mir nach meiner ersten Flucht von Göllersdorf 1973 geholfen, indem ich die letzten acht Wochen am „Steig" verbringen durfte, nachdem ich mich bei ihm in der Psychiatrischen Universitäts-Klinik gestellt hatte. Dank seiner Hilfe und Einsicht ersparte ich mir damals nach drei Tagen „Urlaub" auch die Tortur der Absonderung. Sonst wäre vielleicht auch ich ein „kleiner Willi" geworden, der sich Nadeln ohne Köpfe unter die Haut jagte oder sich am Mittersteig mit der Hand auf einen Tisch festnagelte. Willi war sehr stolz auf sich und alle Beamten waren freundlich zu ihm, um ihre Ruhe zu haben.
Als ich 1969 mit ihm inhaftiert war, fragte er mich ernsthaft, wo er am besten einen „hunderter" Nagel in seinen Kopf klopfen könne. Sterben wollte er nicht, aber er nahm den Tod in Kauf. Wie (erst später) auch ich. Herbert, der sich am Mittersteig mit Bohnerwachs einrieb und anzündete, in der Strafanstalt Garsten in selbstmörderischer Absicht auf das Kirchendach kletterte, lebt heute auch nicht mehr. Wie der „Mini-Ströbl" Horst B. Als ich noch ein junger „Nachwuchs-Strizzi“ war, bewunder t e ich den echten „Ströbel", wenn er statt mit dem Rolls mit dem Moped daherkam. Mit protzigen Brillantringen auf den behandschuhten Fingern. Horst B., dessen poröses Bauchfell nach oftmaligem „Schlucken" und Setzen von Benzininjektionen nicht mehr zusammenwuchs („artifizieller Platzbauch"). Er riss die ewig eiternde Wunde je nach Bedarf auf und die Gedärme quollen immer wieder aus seinem Bauch.
Einmal rotierte der alte „Ströbel" im Grab, als in Stein seinem „Namensvetter" von Franz Z. der Mastdarm mit einem Besenstiel perforiert wurde. Es dauerte sehr lange, bis man das durch die alten Gemäuer des ehemaligen Klosters hallende Wimmern des schwerverletzten vernahm. Horst hatte in Freiheit die falsche Frau, die eines Freundes von Franz Z., gefickt...
„Mini" wurde winziger und hatte das Glück, in Österreich zu sitzen. Franz Z. das Pech, seine Strafe nicht in den USA zu verbüßen, denn da hätte er wahrscheinlich keine Zusatzstrafe ausgefasst. (Wer hätte ihn dort angezeigt?). Im Jahre 86 schnaufte „Mini-Ströbel" in Stein seinen letzten Röchler. Sein Körper nur mehr ein Torso. So weit wollte ich es mit Selbstbeschädigungen nicht kommen lassen. Doch wie in ein paar Beispielen erwähnt, warf die Justiz den Ball immer wieder zurück. Es fehlte ihr an Geld und Personal, um den Ball aufzufangen. Außer am Mittersteig. Nach der Operation und einigen Tagen Aufenthalts im alten AKH kam ich ins Inquisitenspital des Landesgerichtes. Dort verbrachte ich einige Wochen. Dann ging es wieder zurück ins „2er Landl“. Dort schluckte ich eine Überdosis Tabletten. Als mich die Beamten ins Spital ausführten, rammten sie mich, halb betäubt, gegen eine Säule. Der Sanitäter im Krankenwagen schlug mir mit seinem Fahrtenbuch ein blaues Auge. (Beschwerde? Das hätte damals höchstens eine Anklage wegen Verleumdung gegeben.).
Zurück ins Häfen. Nach wenigen Tagen ging es wieder in die Absonderung. Ich trieb mir ein Eisenstück auf, verschluckte es erneut. Wieder ins Spital für zwei Tage. Das Eisenstück wurde unter Narkose aus dem Magen „gefischt". Wieder zurück in den Keller. Ich hatte nur noch wenige Tage Strafe, die ich nun durchbiss. Dann war ich frei. Vier von sieben Monaten intensiver Qual waren vorbei. Wenige Monate später saß ich wegen der Flucht wieder vierzehn Tage ein. Dabei hatte ich noch Glück, denn statt vierundzwanzig Tagen, die ich in der Absonderung verbracht hatte, musste ich „nur" vierzehn nachmachen, weil meinem Einspruch teilweise stattgegeben wurde.
Als ich meine letzte längere Haftstrafe wegen schwerer Körperverletzung im August 85 freiwillig in der Strafvollzugsanstalt Hirtenberg antrat, lag die Tat bereits über vier Jahre zurück. Ich war verheiratet und hatte ein kleines Puff, den „SCS“ (Sex-Club-Sabine) in der Gierstergasse in Meidling. Als meine Frau Karin nach einem Monat absprang und ich von meinem achtzehnjährigen Nachfolger hörte, der in meiner Wohnung schlief und sich in meinem Lokal als Chef feiern ließ, drehte ich durch. Ich sammelte sämtliche Schlaf- und Beruhigungspulver, die unter den „Haflingern“ aufzutreiben waren. Diese zerstampfte ich und löste sie in einer Flasche mit Frucht-Sirup auf. Das war auch das beste Versteck, denn das Gebräu überstand auch einen „Filz", weil ich es nicht versteckte. Weiters besorgte ich mir einen starken Spagat. Zwei Tage vor Weihnachten, es war ein Samstag, nahm ich die Schnur zwischen beide Hände und rieb sorgsam an meinem Hals, bis sich blutunterlaufene Striemen am Hals bildeten. So nebenbei erwähnt: Es gibt angenehmeres. Da es in Hirtenberg auf der gesicherten Abteilung im Neutrakt keine geeigneten Gitterstäbe in den Zellen gab (Betonklötze vor den Fenstern), montierte ich nachts die dicke Schnur am Handtuchhalter, schnitt ich sie ab und legte mir die lockere Schlinge um den Hals. Dann trank ich die ca. fünfzig aufgelöste Tabletten. Als der Schlaf kam, rutschte ich in die Schlinge, die mich am helllichten Tag in eine tiefe Dämmerung führte. Mein Zellenkollege löste, nachdem ich bewusstlos geworden war, Alarm aus und erzählte, er sei aufgewacht und habe die Schnur abgeschnitten...
Ein jäher Schmerz in meinem Unterleib, ein kurzer Schrei aus dem trockenen Mund, dann schlief ich ohne Katheter weiter. Als ich endgültig zu mir kam, sah ich mich um. Mein Spitalsbett war in einem kellerähnlichen Gewölbe untergebracht. Kleine Schießscharten ähnliche Fenster verstärkten den düsteren Eindruck. Es war schon dunkel draußen und durch eine Glasscheibe, die das Krankenzimmer teilte, erkannte ich einen Justizler, der in einem Groschenroman schmökerte. Ich ließ mich in den weichen Polster zurücksinken und beobachtete den Beamten. Er war sehr jung, einer von der unbeliebten Sorte. Sein Anblick bereitete mir Sodbrennen, obwohl mir das Zumpferl von der Katheter-Entfernung noch höllischer brannte. Endlich betrat etwas Weibliches meinen Abstellraum. Eine kranke Schwester, denn so sah sie aus. Farblos und blass. Ich fragte sie nach dem Datum. Es war der 24. Dezember, 18 Uhr, lautete ihre knappe Antwort. Sie verließ den Käfig wieder, um mit dem Kas ein bisschen zu plaudern. Zu Weihnachten ist man halt netter...
Ich war also über zweieinhalb Tage im Koma gelegen. Ich versuchte, mich zu erinnern, ob ich die berühmte lange Röhre mit dem Licht am anderen Ende vielleicht gesehen habe? Vielleicht habe ich sie verschlafen? Dabei wäre ich so neugierig darauf gewesen. Dafür hatte sich die Trostlosigkeit prolongiert. Ich überlegte die Folgen meines Selbstmordversuches, da einige Beamte der Strafvollzugsanstalt nach diversen Beschwerden von mir nicht gut auf mich zu sprechen waren. Als mir zum Beispiel ein an sich sympathischer Beamter durch seine rechtsextremistischen Äußerungen auffiel, ließ ich mir einen goldenen Davidsstern ins Gefängnis schicken. Es war eine klare Provokation, eine blöde Herausforderung, in der von Anfang an der Verlierer feststand. Ich Narr wollte mich als Häftling den bereits sehr fortgeschrittenen Anfängen wehren. Ich wollte mir die Judenwitze einfach nicht mehr länger anhören. Es war weniger der Beamte, der sich seiner antisemitischen Äußerungen vielleicht gar nicht richtig bewusst war, nein, es war der Korpsgeist, an dem ich gerüttelt hatte und der mächtig zurückschlug.
Ich wurde von der Arbeit in der Küche abgelöst und strafweise in den gefürchteten Neutrakt verlegt, der ursprünglich für „Sicherheitsverwahrte" reserviert war. Ein Gefängnis im Gefängnis. Morgens nicht um 6h aufstehen bedeutete Fernsehverbot. Andere kleine Verstöße wie etwas Staub am Spind wurden ebenfalls geahndet. Mit Besuchsverbot oder Streichung des Zukaufes von Tabak oder Lebensmitteln. Meine Beschwerden kamen wie ein Bumerang zurück. Selbst die israelitische Kultusgemeinde beantwortete meinen Brief nicht. Wer nahm damals schon ein paar Nazis ernst, außer einem verrückten Häftling? Die Folge war der versuchte Suizid. Der sogar dem betroffenen Beamten an den Magen ging, wie mir Jahre später ein Ex-Häftling erzählte. Wer konnte auch annehmen, dass jemand auf ein paar Witze so reagiert?Doch nun lag ich hier, wie auf einem Abstellgleis. Da griff ich nach einer List. Wenn schon, dann wollte ich in eine psychiatrische Anstalt, denn nur dort würde sich mein depressiver Zustand destabilisieren. Mit einem Handtuch, das ich am „Galgen" des Bettes montierte, um anschließend eine Schlinge zu konstruieren, hoffte ich, die Aufmerksamkeit des Beamten auf mein Vorhaben zu lenken. Kaum hatte ich den Kopf durch die Schlinge gesteckt, war er auch schon im Krankenzimmer. „Lassen´s den Blödsinn, sonst san´s gleich in Gugging!" meinte er mürrisch. Wahrscheinlich hatte er gerade seinen „Jerry CottonRoman" an einer spannenden Stelle unterbrechen müssen. Dorthin will ich ja, dachte ich, und ließ mir aus der Schlinge helfen. Kaum hatte der Mann das Abstellkammerl verlassen, wartete ich, bis er wieder Platz genommen hatte, um in seinem Roman zu schmökern- natürlich nicht, ohne hin und wieder einen misstrauischen Blick über den Heftrand auf mich zu werfen. So trat ich den zweiten Teil meines Planes an. Ich erhob mich und ging auf die Toilette. Wie erwartet, fand ich auch dort ein Handtuch vor. Das Spiel begann von vorne und meine Rechnung ging diesmal auf. Der Kas hielt natürlich Nachschau, legte mir Handschellen an und brachte mich ins Bett zurück. Dort harrte ich schweigend der weiteren Dinge. Wenige Minuten später betraten mehrere Ärzte den Raum. Ich tat, als ginge mich das alles nichts mehr an. Mein Blick war starr auf den Plafond gerichtet und ich ließ mir auf die albernen Fragen nach meinem Namen keine Reaktion anmerken. Schließlich reagierte der Arzt mit der Feststellung, dass ich nach Gugging einzuweisen sei. Eine halbe Stunde später war ich in einem Bus und trat die Reise in die Nervenheilanstalt an. Wir fuhren durch die winterliche Landschaft und ich dachte an Karin. Wie würde sie den heutigen Abend wohl verbringen? Vielleicht lacht sie gerade oder liegt mit ihrem neuen Hawara im Bett? Ich verwischte die Gedanken und hoffte auf ein kleines Weihnachtswunder. Endlich waren wir angelangt. Der VW-Bus parkte sich vor einem Pavillon ein und ich betrat das Gebäude, das für die nächsten drei Wochen meine Heimat sein sollte. Dort spürte ich einen Hauch von Wärme und Weihnachten. Der Arzt erklärte mir nach einigen Tagen, dass es sich nur um Bruchteile von Sekunden gehandelt hatte, die mich von der en d gü l t i ge n F re i h ei t g et r e nn t ha t t e n. D i e t i e f e n Strangulierungsmerkmale am Hals erinnerten mich noch wochenlang an diese Außen-Welt, die ich kurz besucht hatte.
Meine Frau Karin besuchte mich nur einmal und warnte den Anstaltsleiter gleich vor der Möglichkeit einer Flucht. Ich hatte sie beim Besuch darauf aufmerksam gemacht. So wurde mir der Besuch einer Bastelwerkstätte im Haus untersagt. Ich hätte trotzdem mehrere Möglichkeiten zur Flucht gehabt, doch diesmal unterdrückte ich den Gedanken daran. Nicht zuletzt dem Leiter von Gugging zuliebe, der mir versprach, sich für einen Strafortwechsel einzusetzen. Er hielt auch sein Wort. Ich kam nach drei Wochen Aufenthalt in Gugging für viereinhalb Monate als „Gastpatient" nach Göllersdorf. Eine Anstalt für geistig abnorme Täter. Davon zwei Drittel (Sexual-)Mörder. Das Kuckucksnest, das ich nicht überfliegen konnte. Dort genoss ich zwar viele Vergünstigungen, von denen ein normaler Strafgefangener nur träumen konnte, doch ich quälte mich selbst, indem ich immer auf einen Anruf wartete. Auf ein kleines Zeichen von Karin. Ich sehnte mich nach ihrem Atem, auch wenn ich ihn nur durch das Telefon vernommen hätte. Doch es läutete nur für andere. Ich verbrachte Stunden wartend am Fenster und bei jedem Klingeln des Telefons hoffte ich auf ihren Anruf. Nach drei Monaten hielt ich diese Tortur nicht mehr aus. Lieber in einem Strafhaus ohne Vergünstigungen, als bei jedem Telefonklingeln den Fels der Hoffnung zu ersteigen, um dann in die tiefe Spalte der Verzweiflung zu fallen. Mein Zimmerkollege war ein zwar netter, aber doch grenzdebiler „Notzüchtler", der sein Glück bei einer alten Frau probiert hatte (es war zum Glück nur beim stümperhaften Versuch geblieben, die Dame zu streicheln). Er war stumm und seine Artikulationsversuche für eine anregende Kommunikation blieben Versuche. Ein Häftling, Josef S., mit dem ich bei verschiedenen Stoßpartien manchen harten Strauß ausgefochten hatte, war nach einem Sprung vom dritten Stock des Landesgerichtes Wien ein geistiges und körperliches Wrack. Ich kannte ihn noch als Gent am Spieltisch- er beherrschte souverän die Karten. Nun wartete er nach fast zwölf Jahren Haft auf seine Entlassung. Er hatte in der Nähe des Max-Winter-Platzes aus Eifersucht seinen Nebenbuhler erstochen. Als ich nach Göllersdorf kam, freute ich mich zuerst, einen Bekannten zu treffen. Dieser ehemals elegante und fesche Mann lag nun als Karikatur seiner selbst in seinem verwahrlosten Zimmer und starrte auf die Decke der Zelle. Sein hagerer Körper lag wie aufgebahrt auf dem Bett. Pepi war gezeichnet von der Haft und dem Suizid. Sein Zimmerkollege, ein zu Lebenslang verurteilter Sexualmörder, feierte jede Weihnachten damit, sich eine Kugelschreibermine in die Harnröhre zu stecken... In Göllersdorf wurde er psychologisch betreut. Als ich Pepi Mut zusprechen wollte, weil sein Strafende ja unmittelbar bevorstand, schaute er mich lange an. Dann erzählte er mir mit leiser Stimme von seinem Freund Jesus. Der würde ihn bei der Entlassung abholen. Als er nach einem Monat entlassen wurde, kehrte er an die ehemalige Stätte früherer Triumphe zurück. Zum Stoß.
Die Spieler dort sahen in ihm noch das alte „Kartengenie". So borgte ihm ein erfahrener „Dippler" dreißigtausend Schilling. Pepi gewann in kurzer Zeit eine knappe Million, die er aber in noch kürzerer Zeit wieder verlor. Vielleicht hatte Jesus einen anderen Termin? Wenig später, er hatte auch das geborgte Geld anderer Leute verspielt, schmiss sich Pepi vor eine einfahrende U-Bahn. Ob er seinen „Freund“ Jesus wohl getroffen hat? Wir werden es nie erfahren...
Ansonsten gab es in dieser durch Psychopharmaka geprägten Atmosphäre von gebändigter Gewalt, dieser Mischung aus sterilem Gefängnis und Irrenhaus, nur einen Menschen, mit dem ich mich einigermaßen unterhalten konnte: Den Triple-Mörder Günther Lorenz mit Maturaniveau. An sich ein netter Junge, der nur den Makel einer kalten, fast frostigen Ausstrahlung hatte. Wir spielten Tischtennis, teilten uns Palatschinken, deren Zutaten ich besorgte und die er mit viel Sorgfalt und Geschmack zubereitete. Wie es in Gefängnissen und auch psychiatrischen Anstalten oder überall, wo Menschen unfreiwillig eine längere Zeit verbringen müssen, wahrscheinlich üblich ist, kam das Gespräch natürlich auch auf Flucht. Träumereien, wie sie auch ein Kranker von der Gesundheit träumt. Jedenfalls schlug er mir ein Geschäft vor. Ich sollte ihm, wenn ich in Freiheit bin, eine Waffe besorgen und ihm diese an einem gewissen Tag, an dem er sich ins Spital in Hollabrunn ausführen lassen wollte, unauffällig übergeben. Quasi als Gegenleistung würde er den Freund meiner Frau liquidieren. Ich ließ ihm seinen Traum, denn durch Träume ist noch niemand zu Schaden gekommen und dieser half ihm vielleicht, die nächste Zeit zu überstehen.
In Göllersdorf besuchte mich auch mein Zellenkollege bzw. „Lebensretter“ aus Hirtenberg. Er war inzwischen entlassen. Er hatte mich bei meinem Selbstmordversuch in der Schlinge hängen gesehen und die ersten Schritte zu meiner Rettung veranlasst. Er erzählte mir, was geschehen war. Als die Rettung eingetroffen war, hatte mich der Arzt zuerst mit einer Nadel in die Ferse gestochen, um meine Reflexe, die nicht mehr vorhanden waren, zu überprüfen. Ich hatte mich über den Besuch sehr gefreut. Nicht nur, weil er von seinem wenigen zur Verfügung stehenden Geld eine Fahrkarte gelöst hatte, um mich zu besuchen, sondern auch, weil er mir hundert Schilling anwies. Nicht alle Suizidversuche waren ernst gemeint, doch jeder einzelne hat Narben hinterlassen. Nicht nur sichtbare. Sie rodeten meine Seele zu einer Kraterlandschaft. Ich tat oft anderen weh, um in mir einen neuen Krater zu öffnen. Ich wurde oft gewalttätig, um hauptsächlich mich zu quälen und zu bestrafen. Ich verlor Geld beim Spiel und tat es, um meine Beziehungen zu belasten. Schuld waren die anderen, wie meine Frauen. Immer waren andere an meiner Blödheit schuld und mein von der Lava des Wahnsinns zerklüfteter Sitz von Liebe wurde immer ungastlicher. Ich drängte mich vielleicht selbst immer wieder an den Rand des Suizids. Vielleicht wollte ich einfach alles verlieren, um schlussendlich auch mich selbst aus dem Weg zu räumen...?
Die letzten elf Wochen meiner Haft verbrachte ich auf eigenen Wunsch, ich konnte mir eine JVA aussuchen, in der Strafvollzugsanstalt Stein, von den Insassen nicht sehr liebevoll „Felsen" genannt. Bei der Aufnahme, die von Häftlingen unter Aufsicht eines Justizbeamten durchgeführt wird, meinte ein lächelnder Hausarbeiter, ein „Fazi“: „Brauchst eh´ kein Bettzeug, die paar Tage kannst neben der Tür stehenbleiben." Für die meisten Häftlinge ist man mit einem Strafausmaß bis zu fünf Jahren ein „Losgeher". Als ich sechs Wochen vor Strafende Ausgang in der Dauer von drei Tagen bekam, erwartete mich vor den Gefängnistoren die Einsamkeit. In Wien war meine Wohnung ausgeräumt. Was an Rechnungen zu bezahlen gewesen wäre, war unbeglichen. Gas, Strom und Licht sowie die Mieten seit sechs Monaten nicht bezahlt. Dafür zeugten Einschüsse in der Wand und in der Heizung sowie ein blutiges Handtuch am Boden von Vorgängen, die nicht gerade in einem Liebesroman stehen. Die Wohnung war von sämtlichen Wertgegenständen gesäubert. Genauso war es in meinem Puff in Meidling. Als ich abends mit Karin eine Aussprache hatte, betrank ich mich, bis sie nicht mehr von der Toilette zurückkehrte. Nach einiger Wartezeit verließ ich das Café ebenfalls, um mich auf der Schönbrunnerstraße vor ein Auto zu werfen. Wahrscheinlich war der Autolenker, der wenige Zentimeter vor mir zum Stillstand kam, ein aufmerksamer Fahrer, dessen Auto vorzügliche Bremsen besaß. Irgendwie schafften mich Bekannte in „mein" Bordell in der Gierstergasse, wo ich die Nacht alleine im Séparée verbrachte. Leider hatte Karin auch dort die läppische Miete in der „Höhe“ von etwas über dreihundert Schillinge (ich hatte das ehemalige Magazin aber renoviert und ausgebaut) nicht bezahlt und die Delogierung stand bevor. Am dritten Tag kehrte ich ohne Zähne ins Gefängnis zurück. Meine Prothese war das „Opfer" von Autoreifen geworden. Zum Glück hatte ich etwas Haschisch im Arsch versteckt, das mich die restlichen Wochen in meinem „Grab" überleben ließ. Die besten Joints rauchte ich übrigens im Gefängnis. Karin hatte mir beim ersten und letzten Besuch bereits beim „Begrüßungsbusserl“ einen Deka gut in Folie verpackten Shit in den Mund geschoben und den Rest der Besuchszeit dazu verwendet, mir ihre Treue und Liebe zu versichern. Trotzdem hieß es nach Beendigung des „reizenden“ Besuchs: „Rabak, kummens mit“ und zwei Beamte führten mich in ein kleines Kammerl. Ich musste mich ausziehen und man sah mir in den Arsch, zwischen die Zehen und man durchwühlte meine Haare, doch in den Mund blickte zum Glück niemand. Zurück in der Zelle rauchte ich einen der genüsslichsten Joints meines Lebens...
Es wird nun wirklich Zeit, eine etwas rührende Geschichte zu erzählen. Der Gesellschafts-Kolumnist Michael Jeannee von der Kronen-Zeitung brachte jedenfalls einen kurzen Auszug davon in seiner Kolumne. Sie handelt von einer großen Liebe von mir, meinem lieben Bullterrier Junior, der nach über 15 Jahren Lebensfrist seine müden, alten „Knochen“ in Spanien unfreiwillig an ein Krematorium abgab. Seine Asche hat heute noch einen Ehrenplatz bei mir. Es war ein für einen Bulli relativ langes Leben, das am Ende seiner letzten Tage nur mehr sehr qualvoll verlief. Besonders, als er plötzlich zu seiner Taubheit auch noch sein Augenlicht verlor und sich andauernd verletzte, da er gegen Möbel oder die Wand lief.. Nach einer tränenreichen Besprechung mit meiner Frau, die Fachärztin war, und einer spanischen Tierärztin, wollten wir ihn in keine Tierarztpraxis, vor der er Angst hatte, "abzuliefern". Die Tierärztin half ihm in gewohnter Umgebung, zu Hause, auf seinem Bettchen, das von Menschen versaute, irdische Jammertal wenigstens schmerzfrei zu verlassen, während ich ihn in den Armen hielt und zärtlich streichelte. Er schlief sanft ein...
Viel mehr spannende und auch zum schmunzeln anregende Storys in dem Bestseller "Adieu Rotlicht-Milieu" -Es war einmal eine Wiener Unterwelt...
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